© Max Dauven 0 1 #7
Wie Tinder & Co unsere Gesellschaft prägen
Onlinedating hat für viele noch immer etwas Anrüchiges. Die beiden Forscher Josue Ortega aus Mexiko und Philipp Hergovich aus Österreich haben zwei Gründe, das schlechte Image von Dating-Apps zu überdenken: Beziehungen, die online beginnen, halten länger. Außerdem würde Onlinedating unsere Gesellschaft liberalisieren, sagen sie.
Herr Hergovich – sind Sie eigentlich auf Tinder?
Nein.
Dabei haben Sie und Ihr mexikanischer Kollege Josue Ortega von der Universität Essex doch herausgefunden, dass Paare, die sich auf Tinder kennenlernen, wesentlich längere Beziehungen führen.
(lacht) Ja, das stimmt, aber ich befinde mich schon in einer glücklichen Beziehung. Allerdings haben wir tatsächlich herausgefunden, dass Menschen, die im Internet zueinanderfinden, solidere Beziehungen führen, die länger halten, als Menschen, die ihre Beziehungen in der analogen Welt beginnen. Ehen, die aus Onlinebekanntschaften entstehen, werden seltener geschieden, und die Ehepartner sind außerdem zufriedener mit ihrer Beziehung. Uns ist das Phänomen zunächst in unseren privaten Freundeskreisen aufgefallen, als sich immer mehr Menschen Dating-Apps installiert haben. Deshalb haben wir zuerst einmal ein theoretisches Modell erstellt. Das heißt, wir haben Gesellschaftsmodelle simuliert und uns angeschaut, was passiert, wenn sich die Individuen in diesen simulierten Gesellschaften über das Internet kennenlernen. Dadurch konnten wir zwei Vorhersagen machen – und eine dieser Vorhersagen ist die Theorie, dass Beziehungen länger halten, wenn sich das Paar im Internet kennengelernt hat.
„Menschen, die im Internet zueinanderfinden, führen solidere Beziehungen“
Und in der Praxis?
In der Praxis hat sich das bestätigt. Wir haben unsere Modelle auf Daten einiger amerikanischer Studien übertragen. Und tatsächlich hat sich unsere Prognose als korrekt erwiesen.
Ist Tinder zu Unrecht als Medium für schnellen und unkomplizierten Sex verrufen?
Sicherlich wird auf Tinder auch viel ausprobiert, und wahrscheinlich geht das auch schneller als offline. Aber das haben wir nicht untersucht, sondern uns nur auf die längerfristigen Beziehungen konzentriert. Unabhängig von der Frage, ob sich Onlinedating für schnellen Sex eignet, glauben wir, dass es auch zu besseren Langzeitbeziehungen führt.
Wie erklären Sie sich das?
Im Wesentlichen ist unsere Erklärung, dass die Auswahl der potentiellen Partner größer ist, wenn man online sucht. Anders gesagt: Im Internet suchen ist wesentlich effektiver. Wenn Sie analog suchen, also nur auf der Arbeit, im Freundeskreis oder von mir aus in einer Bar, dann ist die Chance, den Richtigen zu finden, ganz einfach gerechnet wesentlich geringer, weil Ihnen ein viel kleinerer Pool von Leuten zur Auswahl steht. Wenn Sie dagegen auf Partnerbörsen im Internet suchen, dann steht Ihnen eine viel größere Auswahl zur Verfügung und dann sind sie auch noch alle Single.
Ist es bei der Auswahl denn nicht schwerer, den wirklich Richtigen zu finden?
Natürlich ist das schwer, genau wie im analogen Leben. Aber wir glauben, dass ein größeres Angebot auch zu einem besseren Überblick über den Markt führt. Außerdem sind ja viele Leute nicht deshalb Single, weil sie zu viele Leute kennen, die mögliche Partner sein könnten, sondern weil sie niemanden kennen, der infrage kommt. Wenn sie ein größeres Angebot an Partnern haben, dann trauen sich die Menschen auch länger zu suchen, um wen zu finden, der wirklich gut passt.
Das klingt ja sehr nach der Theorie des freien Marktes.
Ich selber bin von Haus aus Ökonom und ja: In unserer Theorie gibt es durchaus Überschneidungen mit Markttheorien.
Sehr romantisch klingt das aber nicht. Nimmt Ihre Theorie der Liebe nicht alle Magie und degradiert sie zu einer sterilen Wahrscheinlichkeitsrechnung?
Ach, die Magie der Liebe. Die möchte ich überhaupt nicht infrage stellen. Ich glaube sehr wohl an das Magische in romantischen Beziehungen, aber ich glaube eben nicht daran, dass das in irgendeiner Weise mit der Art zusammenhängt, wie Leute sich kennenlernen. Die Magie der Liebe, wie Sie so schön sagen, findet doch dann statt, wenn Menschen sich schon kennengelernt haben und wenn diese Menschen dann miteinander eine Beziehung leben. Das ist bei Beziehungen, die online beginnen, genau das gleiche wie bei denen, die offline beginnen. Ich sehe überhaupt nicht, was unromantisch daran sein soll, wenn man die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Menschen einen anderen Menschen finden, mit dem sie dieses magische Gefühl teilen können.
Und wenn ich jemanden habe, mit dem ich dieses Gefühl teile, dann weiß ich: Auf Tinder warten noch andere tolle Partner auf mich. Torpediert das enorme Angebot unsere Fähigkeit, sich auf einen Partner einzulassen?
Das konnten wir nicht untersuchen. Andersherum könnte man aber auch vermuten, dass man sich mehr Mühe gibt, weil man weiß, dass der Partner auch sehr schnell wieder jemand anderen finden kann.
Sie hatten noch eine zweite These: Onlinedating führt zu durchmischteren Gesellschaften.
Genau. Auch diese These konnten wir in der Empirie bestätigen. Der Grund dafür ist, dass Sie offline immer in den gleichen Communities suchen. Wenn Sie am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis nach Partnern suchen, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass Sie nur auf Menschen stoßen, die den gleichen sozioökonomischen Hintergrund haben wie Sie. Gerade bei Plattformen wie Tinder werden die potentiellen Partner einander nach einem mehr oder weniger zufälligen Prinzip zugeordnet. Das führt dazu, dass sich mehr Paare finden, bei denen die Partner unterschiedliche Hintergründe haben, und die sich in der analogen Welt nicht über den Weg gelaufen wären oder gar eine Beziehung miteinander eingegangen wären. Im Ergebnis kann das eine Gesellschaft egalitärer machen.
Und ein Bankkaufmann hat keine Vorurteile gegenüber einem Punker oder umgekehrt, wenn sie sich online treffen?
Das stimmt schon: Vorurteile sind ein gewisses Hindernis. Andererseits zeigen Untersuchungen, dass Menschen in Dating-Situationen ihre Vorurteile schneller ablegen. Ein Forscherteam mit Wissenschaftlern von der Columbia University, der University of Chicago und aus Stanford hat in einer Studie herausgefunden, dass Menschen beim Speeddating ihre Vorurteile gegen Menschen aus anderen Kulturkreisen nach der ersten Scheu ganz schnell überwinden. Man muss nur eben die Chance bekommen, mit jemandem aus einem anderen Kulturkreis in Kontakt zu treten. Und diese Chance bekommt man beim Onlinedating häufiger als im analogen Leben.
Tinder als Totengräber rassistischer Gesellschaften?
Naja, Sie haben schon Recht: Bei dieser These muss man vorsichtig sein. Zum einen wird Onlinedating vor allem von Menschen verwendet, die selbst liberaler sind, also ohnehin weniger zu rassistischen Vorurteilen neigen. Zum anderen nimmt die Zahl der multikulturellen Beziehungen seit Jahren zu, ohne dass wir das eindeutig dem Onlinedating zuschreiben können. Onlinedating und durchmischtere Gesellschaften korrelieren also. Einen kausalen Zusammenhang können wir nicht eindeutig nachweisen. Wir überlegen aber gerade, ob wir dieses mittels Experimenten überprüfen können.
Kann digitales Daten auch dabei helfen, gesellschaftliche Rollenbilder zu modernisieren?
Grundsätzlich glauben wir, dass mehr Menschen miteinander interagieren, die vorher nicht die Chance dazu hatten. Also könnte es durchaus sein, dass Menschen miteinander eine Beziehung eingehen, die sie analog nicht begonnen hätten. Etwa eine ältere Frau und ein jüngerer Mann. Dabei muss man aber natürlich immer auch sagen, dass die Entscheidung, ob es zu einer Beziehung kommt oder nicht, eine individuelle Entscheidung ist.
Wie sieht es denn mit den berühmten Filterblasen aus, finden wir sie auch beim Dating?
Oh ja! Das bedroht natürlich unsere These vom Onlinedating und den durchmischten Gesellschaften. Wenn sich wohlhabende Menschen auf der einen Plattform anmelden und weniger wohlhabende auf der anderen, dann wirkt das einer Durschmischung natürlich entgegen. Interessanterweise sind solche Datingplattformen, in denen sich Menschen segregieren, aber in der Minderheit.
Wieso eigentlich?
Das liegt am sogenannten Netzwerk-Effekt. Den kennen wir auch von anderen sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter. Denn wenn viele Leute auf Facebook sind, dann ist es auch für den Einzelnen sinnvoll, sich auf Facebook anzumelden und nicht etwa auf Studi-VZ, weil all seine Freunde auch auf Facebook sind. Soziale Netzwerke haben darum eine gewisse Tendenz, monopolisierte Märkte zu bilden, und das gilt nach allem, was wir bisher wissen, auch für Datingplattformen.
„Viele Bereiche unseres Lebens verlagern wir ins Internet. Wieso sollte unser Liebesleben eine Ausnahme sein?“
Ein Drittel der heterosexuellen Paare findet sich über Onlinedating, für homosexuelle Paare ist es sogar mit Abstand der häufigste Weg, sich kennenzulernen. Kulturpessimisten halten das für einen gesellschaftlichen Rückschritt.
Solche Aussagen halte ich für unsinnig. Alles, was den Menschen hilft, zusammenzufinden und sich zu lieben, ist doch ein Fortschritt. Wie Sie schon gesagt haben, hat sich die Chance für homosexuelle Paare wesentlich erhöht, einen passenden Partner zu finden. Früher, vor dem Onlinedating, war das noch wesentlich schwieriger, und ich denke, das allein ist schon etwas sehr Positives. Ich glaube nicht, dass eine Beziehung deshalb romantischer ist, weil sich die Partner romantisch kennengelernt haben, sondern weil die Partner gut zusammenpassen. Im Übrigen glaube ich, dass die Zahl der Paare, die sich über das Internet kennenlernt, noch zunehmen wird. Viele Bereiche unseres Lebens verlagern wir ins Internet. Wieso sollte unser Liebesleben eine Ausnahme sein?
Dating-Apps sind also mehr als ein Hype?
Definitiv! Natürlich werden sich Menschen auch in Zukunft noch offline kennenlernen, aber Onlinedating wird ganz natürlich immer weiter an Relevanz gewinnen. Ganz einfach, weil wir seit Jahren die Tendenz haben, mehr Zeit mit unseren Handys und Laptops zu verbringen und weniger vor die Tür gehen. Viele andere Bereiche des Lebens, wie etwa das Einkaufen, werden deshalb auch immer weiter ins Internet verlagert. Ich sehe nicht, weshalb unser Liebesleben da eine Ausnahme bilden sollte.
Haben Ihre beiden Thesen, dass Onlinedating solidere Beziehungen hervorbringt und es zu gemischteren Paaren führt, einen gemeinsamen Nenner?
Ja, wenn man so will, führt Onlinedating unterm Strich zu einer besseren und liberaleren Gesellschaft.
Stellt sich hier nicht die Frage nach der Henne und dem Ei?
In der Tat können wir bei der liberalisierenden Kraft von Onlinedating keine klare Kausalität nachweisen, sondern eher eine Korrelation. Gesellschaften, die liberal sind, tendieren auch eher dazu, Onlinedating zu tolerieren.
Lässt sich die These, dass Digitalisierung und Offenheit miteinander einhergehen, auch auf andere Bereiche unseres Soziallebens übertragen?
Ja, mit Einschränkung schon. Sicher kann man unsere Erkenntnisse nicht eins zu eins auf andere Formen der Digitalisierung übertragen. Aber grundsätzlich lässt sich sagen, dass mit der Digitalisierung auch andere Bereiche unseres Soziallebens effektiver gestaltet werden und soziale Beziehungen denkbar sind, die früher kaum möglich waren. Mittels sozialer Medien können wir heute zum Beispiel eine Fernbeziehung über Kontinente hinweg führen und am Leben einer Person teilnehmen, die wir nur selten persönlich sehen. Aber natürlich gibt es auch hier Kräfte, die dem entgegenwirken.
Welche Kräfte sind das?
Die berühmten Echokammern oder Blasen, in denen viele von uns zu leben scheinen. Denn theoretisch hat das Internet die Kraft, Menschen aus völlig unterschiedlichen Schichten oder mit unterschiedlichen Meinungen oder aus anderen Regionen der Welt miteinander zu vernetzen und sie zum Austausch zu bringen. Doch die Algorithmen vieler sozialer Netzwerke verhindern das und lassen einen zunehmend nur mit seinesgleichen in Kontakt treten. Hier wäre es spannend herauszufinden, welche Kraft stärker ist. Wie ich eben schon gesagt habe, kann man diese Tendenz schon bei einigen Datingplattformen wiedererkennen.
Elitepartner.de zum Beispiel.
Ganz genau. Sollten sich solche Plattformen durchsetzen, ist es mit der egalisierenden Kraft des Onlinedatings natürlich dahin. Aber für den Moment muss man noch immer sagen, dass Onlinedating uns anscheinend einen großen gesellschaftlichen Mehrwert erbringt.
„Das Digitale sollte ein Mittel sein und nicht der Zweck“
Wo ist die Grenze? Welche Teile unseres Soziallebens sollten wir besser nicht ins Internet verlagern?
Ich glaube, dass die Grenze immer dann erreicht ist, wenn wir unsere Zeit nur noch am PC verbringen. Im besten Fall haben soziale Netzwerke wie auch Datingplattformen die Möglichkeit, unser analoges Sozialleben zu bereichern, also quasi als eine Art Stütze zu dienen. Das Digitale sollte ein Mittel sein und nicht der Zweck.
Das Interview führte Yves Bellinghausen.
Philipp Hergovich ist Ökonom und lehrt an der Universität Wien. Zusammen mit seinem Kollegen Josue Ortega der Universität Essex untersuchte er, wie sich Onlinedating auf Gesellschaften auswirkt.