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Wo hört Spiritualität auf und wo fängt Selbstoptimierung an?

Eine spirituelle Lebensführung wird auch in Deutschland immer populärer. Franz Winter ist Professor für Religionswissenschaft an der Universität Graz in Österreich und forscht unter anderem zu neureligiösen Bewegungen in Ost und West, Religion und Medien sowie der Geschichte des Kontakts zwischen Europa und Asien. Mit fortytwomagazine hat er über Spiritualität und Religion gesprochen, wie der Trend von anderen Bewegungen beeinflusst wird und wo manch spirituelles Angebot an seine Grenzen stößt.

Yoga, Meditation, Journaling, Mantras – all dies ist mittlerweile zum Inbegriff der modernen Spiritualität in Deutschland geworden. Gemäß dem Vorsatz „Du kannst alles schaffen, wenn du nur genug an dich glaubst“ geht es darum, zu sich selbst zurückzufinden. Das eigene Innere dient als Quelle der Kraft, um zu handeln und zu transformieren. Besonders Yoga steht voll im Trend: Laut einer Studie des Berufsverbands der Yogalehrenden von 2018 praktizieren rund 5 % der Deutschen Yoga. Der Anteil der Frauen ist mit 9 % deutlich höher als unter den Männern mit 1 %. Moderne Spiritualität hat also schon seit langem Einzug in Deutschland gehalten. Doch was versteht man überhaupt unter dem Begriff? Er erklärt, dass bei Spiritualität zwischen zwei Verständnissen unterschieden werden kann: Zum einen existiert ein Verständnis mit romanisch-sprachigem Hintergrund, der den Begriff mit der christlichen Tradition verbindet. Dem gegenüber steht ein Begriff mit Anglo-amerikanischen Hintergrund, der Spiritualität von Religion unterscheidet und der sich gegenwärtig durchgesetzt hat.

„Religion in ihrer klassischen Form definiert sich unter anderem durch Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die relativ klar regelt, wie man sich auf einer moralisch-ethischen Ebene verhält und wie der Jahreskreislauf mit Festen und Ritualen gestaltet ist. Das sind Dinge, die im modernen Verständnis von Spiritualität meistens überhaupt keine Rolle spielen. Es gibt zwar Rituale, aber diese sind nicht mehr klassisch geregelt und die organisatorischen Strukturen sind, wenn überhaupt vorhanden, weniger hierarchisch“, so Winter. Zudem werde der Begriff „Gott“ im modernen, spirituellen Verständnis oft problematisiert oder sogar abgelehnt. „Wenn sich jemand vor Jahrzehnten als tiefreligiöser Mensch bezeichnet hat, hat man das mit einer guten Moral und positiver Wirkung auf seine Umgebung verbunden. Heute sieht man bei dem Ausdruck auch die problematischen Seiten. Die Begriffe sind hier völlig neu kodiert worden.“

Entkirchlichung seit den späten 60er Jahren

Die Abkehr vom Religiösen im institutionellen Sinne spiegelt sich zurzeit in Deutschland in den Kirchenaustrittstatistiken wider: Laut einer Umfrage der Nachrichtenagentur dpa sind im Jahr 2022 deutlich mehr Menschen aus der Kirche ausgetreten als in den Jahren zuvor. Bereits 2021 hatten sich über 639.000 Menschen für einen Austritt entschieden, diese Zahl galt bisher als Negativrekord. Der Prozess der Entkirchlichung setzte bereits in den späten 1960er Jahren ein, erfährt jedoch zurzeit einen Höhepunkt. Gleichzeitig erhalten moderne, spirituelle Angebote viel Zulauf. In Deutschland gilt Laura Malina Seiler der Star der Szene. Seiler bezeichnet sich selbst als „Visionärin, Coach und Autorin“ – in ihren Kursen, Büchern und Podcasts geht darum, Körper, Geist und Seele wieder zusammenzubringen, um dadurch die eigenen Ziele besser erreichen zu können. Es ist vor allem die persönliche Weiterentwicklung, die in diesem Konzept eine wichtige Rolle spielt. Seilers Instagram Account zählt mittlerweile 349.000 Follower, sie verkauft Bücher, Kleidung, Apps und Onlinekurse. Ihre Botschaft: Du hast die Kraft in dir, dich und dein Leben zu transformieren. „Hierbei handelt es sich um eine spezifische Erscheinung, die vor allem in den USA sehr präsent ist und die durch die Social Media Kultur eine Verstärkung erfahren hat. Das Influencing wird in den Vordergrund gerückt und der Fokus liegt auf den Dingen, die im Hier und Jetzt relevant sind“, erklärt Winter. Die Inhalte dieser Angebote sind oft simpel und führen letztendlich immer zu der Botschaft zurück, dass alles in den eigenen Händen liegt und man nur genug an sich selbst glauben muss. Im Umkehrschluss bedeutet das jedoch auch, dass es am eigenen Selbst liegt, wenn es im Leben nicht klappt. „Die Frage ist, inwieweit mit Menschen umgegangen werden kann, die eigentlich auch tiefergehende Hilfe benötigen. Da gibt es teilweise problematische Entwicklungen, da viele modernen Spiritualitätskonzepte darauf keine ausreichenden Antworten haben. Ich glaube, die Botschaft ‚wenn etwas nicht klappt, dann liegt es an dir‘ kann problematische Persönlichkeitskonstellationen möglicherweise sogar verstärken. Das hängt jedoch immer auch ganz individuell vom Anbieter ab“, gibt Winter zu bedenken. Neu ist die Idee, dass das richtige Mindset die eigenen Probleme lösen kann, jedoch nicht. Bereits im 19. Jahrhundert war das Konzept des „positive thinking“ (dt. positives Denken) Teil der „New Thought“ Bewegung, die vor allem in Amerika Fuß fasste und die unter anderem die Idee vertrat, dass Krankheit sowie Gesundheit durch Gedanken geschaffen werden. Zudem weist die moderne Spiritualität Gemeinsamkeiten mit esoterischen Traditionen auf. „Spiritualität ist ein breites Schnittmengenfeld. Ein großer Bereich der spirituellen Angebote ist angereichert mit Elementen aus der esoterischen Tradition. Esoterik ist ein spezifisches Ausdrucksfeld, das viel mit der neuzeitlichen europäischen Religionsgeschichte zu tun hat“, erklärt Winter.

Die Suche nach etwas Tieferem oder Anpassung an Gesellschaftstrends?

Obwohl, oder vielleicht gerade weil moderne, säkulare Gesellschaften sich von Religion immer weiter distanzieren, werden spirituelle Angebote immer beliebter. Der Glaube an technologische Fortschritte und das Rationale scheint nicht auszureichen – wir begeben uns auf die Sinnsuche nach etwas Tieferem und nach einer Deutung der Welt abseits des Rationalen. Doch wo hört Spiritualität auf und wo fängt die Selbstoptimierung an? Die Grenze ist hier fließend. Obwohl sich viele der spirituellen Angebote Praktiken aus den traditionellen Religionen bedienen, entwickeln sie sich in mancherlei Hinsicht zum Gegenpol. Besonders die Meditationspraxis wird in der modernen Spiritualität genutzt, um sich im eigenen Selbst zu zentrieren. Zudem belegen Studien, dass sich regelmäßiges Meditieren positiv auf unsere Emotionen, die Zellalterung sowie auf zwischenmenschliche Beziehungen auswirkt. Meditation wird gemeinhin mit dem Buddhismus und Hinduismus assoziiert, kommt aber auch in Form des stillen Gebets im Christentum oder als Dhikr im Islam vor. Doch während diese Praktik in der modernen, spirituellen Welt oft als Instrument genutzt wird, um zum eigenen Selbst zurückzufinden oder persönlichen Stress zu reduzieren, dient sie etwa im Buddhismus eher der Überwindung des eigenen Selbst. Durch sie kann Erleuchtung und damit Ganzheit erfahren werden. Gemäß der buddhistischen Lehre können die Leiden des Lebens nur überwunden werden, wenn wir die Vorstellung eines unabhängig existierenden Ich aufgeben. Winter sieht in der Individualisierung einen der Hauptreibepunkte zwischen der Moderne und allen traditionellen Religionen: „Wenn man klassische Positionen, wie etwa den Buddhismus, in Betracht zieht, dann ist die Überwindung des Ich ein ganz zentrales Moment. Bei vielen der modernen, spirituellen Angebote geht es um das absolute Gegenteil: Man stärkt das Ich, das den Erfordernissen der aktuellen (beruflichen) Welt ausgesetzt ist. Der primäre Fokus liegt auf der Stärkung des Ich und nicht etwa auf dem Rückbau. Im Gegensatz zu den traditionellen Religionen sieht man hier einen sehr großen Egobegriff. Ob das nun gut oder schlecht ist, ist eine andere Frage“, beobachtet Winter. Gleichzeitig findet er: „Man kann das auch ideologiekritisch betrachten: Im Endeffekt unterwirft man sich damit dem Diktat der modernen Gesellschaft.“

Von Marie Welling

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